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Ein Abend. Ein Chor. Ein Kirchenraum.

Evensong

In unserer Abteikirche gehört das von uns Mönchen gesungene Stundengebet der monastischen Tradition zum täglichen Geschehen. An fünf Sonntagabenden im Jahr möchten wir künftig das Lob Gottes den Stimmen verschiedener Chöre der Region anvertrauen und uns mit hineinnehmen lassen in die Tradition des Evensong.

Mädchenchor All Saints NorthamptonWährend der englischen Reformation brachte der Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, 1549 ein neues einheitliches Buch für Gebet und Gottesdienst der Kirche von England heraus, das Book of Common Prayer. Darin stellte Cranmer nicht nur englischsprachige Texte (statt des bisherigen Latein) und eine einheitliche Ordnung für die Gottesdienste seiner nun von Rom getrennten Kirche zur Verfügung, sondern er vereinfachte auch das kirchliche Stundengebet, das er auf Morgengebet und Abendgebet reduzierte. Auf diese zwei Gebetszeiten verteilte er die 150 Psalmen in durchlaufender Reihe für einen ganzen Monat und kombinierte Elemente verschiedener Horen miteinander. So stehen im anglikanischen Abendgebet – Evening Prayer – nun das Magnificat aus der Vesper und das Nunc Dimittis aus der Komplet beieinander und antworten im Gottesdienstablauf jeweils auf eine alttestamentliche bzw. neutestamentliche Lesung. Dadurch bringt diese Gottesdienstform die gesamte Heilsgeschichte zur Sprache (und in gesungener Form zum Klingen): die alttestamentlichen Psalmen und eine alttestamentliche Lesung berichten von der Geschichte Gottes mit seinem Volk, von der Erfahrung der Menschen mit ihm und von seinen Verheißungen. Im Magnificat besingt Maria (und im Evensong der Chor) den einzigartigen Weg, den Gott zur Erfüllung seiner Verheißung wählt und der in der neutestamentlichen Lesung weiter  ausgefaltet wird. Darauf schließlich antwortet das Nunc Dimittis mit den Worten Simeons, der Gott für die Erfüllung seiner Verheißung in Jesus von Nazareth dankt. Die Inkarnation ist für die Theologie hinter Cranmers Book of Common Prayer ein wesentlicher Fokus.

bath abbey 561789HPhalbspaltigTrotz der neuartigen und vereinfachten Ordnung für Morgen- und Abendgebet sind beide in der Tradition der kirchlichen Tagzeitenliturgie tief verwurzelt, sei es in der Form des klösterlichen Chorgebets oder des Römischen Breviers. Seit der Auflösung der Klöster durch Heinrich VIII. und der Stiftskirchen durch Edward VI., eine der traurigen und auch blutigen Seiten der englischen Reformation, gab es in der Kirche von England kein klösterliches Leben im eigentlichen Sinn und damit auch keine gemeinschaftlich gesungene Tagzeitenliturgie mehr. Nicht nur Architektur, Kunstwerke und Bücher gingen damals zuhauf verloren, sondern auch Musik und musikalische Traditionen.

england 77213HPhalbspaltigDoch durch alle Wirren der Reformation und später des Bürgerkrieges hindurch entwickelte sich, zunächst beschränkt auf besondere Orte wie die königlichen Kapellen (Chapels Royal), eine eigene anglikanische Kirchenmusik, zum einen um die nun englischen Texte der reformatorischen Liturgie neu zu vertonen, zum anderen auch um zu zeigen, dass protestantischer Gottesdienst genauso feierlich sein kann wie der katholische. Eine zentrale Rolle bei dieser Entwicklung spielten die Kathedralen, von denen viele selbst Klosterkirchen gewesen waren und in denen nun gut ausgebildete Chöre die Gottesdienste sangen. Ab dem 19. Jahrhundert kamen auch an vielen Pfarrkirchen Chöre auf, zum Teil von professioneller Qualität. Aus dem Evening Prayer war inzwischen vielerorts der gesungene Evensong geworden, oder noch genauer: das vom Chor gesungene Abendgebet – Choral Evensong. Bis heute folgt er der Grundstruktur von Erzbischof Cranmer im Book of Common Prayer von 1549 bzw. der zweiten und dritten Ausgabe von 1552 und 1662. Er gehört zum festen und beliebten Gottesdienstprogramm an englischen Kathedralen und anderen herausgehobenen Kirchen und auch, teils in einfacherer, teils in überraschend ebenbürtiger Form, in vielen Pfarrkirchen.

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Der Chor von Homerton College Cambridge im Chorgestühl von Norwich Cathedral
Bildnachweis: Photo © David P Howard (cc-by-sa/2.0)

Seit dem 16. Jahrhundert sind die feststehenden Texte des Evensong wie das Magnificat und das Nunc Dimittis in ihrer englischen Fassung von zahlreichen Komponisten jeder Epoche immer und immer wieder neu vertont worden. Auch heute noch werden neue Kompositionen dafür in Auftrag gegeben. Seit über 90 Jahren überträgt die BBC wöchentlich einen Evensong aus einer Kirche oder Kathedrale. Selbst viele nichtgläubige oder kirchenferne Engländer bezeichnen den Evensong als ein bedeutendes Kulturgut ihres Landes, manche finden über den Evensong gar den Weg zum Glauben. Und die Church of England hegt und pflegt diese Gottesdienstform trotz mancher finanzieller Engpässe in dem Bewusstsein, mit dieser Synthese aus Religion und Musik einen wertvollen Beitrag für eine gehetzte Gesellschaft zu leisten, der durch den Evensong eine Quelle von innerer Stille und Kraft, von Frieden und Geborgenheit geschenkt wird.

Einen Evensong mitzufeiern heißt in erster Linie: Hören. Die Musik und die Worte wirken lassen. Zulassen, von ihnen getragen zu werden. Mancherorts besteht die Gemeindebeteiligung darüber hinaus lediglich aus einem gemeinsam gesprochenen Credo und einem Segensvers am Ende. Woanders kommt das eine oder andere gemeinsam gesungene Lied hinzu. Aber in erster Linie gilt: wer kommt, um mitzufeiern, muss einfach nur da sein. Es wird nicht mehr erwartet als offene Ohren – und nicht weniger gewünscht als ein offenes Herz für das, was Musik und Worte an Botschaft tragen. Die Sängerinnen und Sänger im Chor erfahren sich dabei auf einmal nicht „nur“ als Musiker, sondern als diejenigen, auf die es ankommt, die ihr Bestes geben, damit den Mitfeiernden das Beste gegeben werde – Gottesbegegnung.

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Chorgestühl King's College Cambridge
Bildnachweis: Photo © Richard Croft (cc-by-sa/2.0)

Bei all dem ist es wohl keine Überraschung, dass in den letzten Jahren in Deutschland verstärkt Kirchenmusiker und Liturgen sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite den anglikanischen Evensong entdeckt haben und ihn, sei es als Reihe, sei es zu besonderen Anlässen, in individueller Anpassung in ihren Kirchen eingeführt haben. Das ist ein großartiges liturgisches Geschenk sowohl für die Gottesdienstbesucher als auch für die Chöre.

Durch die Kooperation unserer Abtei und der Gemeinschaft der Gemeinden Kornelimünster/Roetgen kommt dieses Geschenk jetzt auch zu uns. Wir freuen uns darüber und laden Sie ein, dieses Geschenk gemeinsam mit uns und den beteiligten Chören auszupacken.