Zu Johannesevangelium 14,16–20
Pfingsten. Geburtsfest neuen Lebens
Johannes 14,16–20:
Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch.
Einige Wochen zuvor war meine Mutter gestorben. Ich war damals 56 Jahre alt. Nachts wache ich mit einem Albtraum auf. Ich finde mich mutterseelenallein im australischen Outback. Die fremde Landschaft, - sie verwundert mich nicht. Sie ist ein Reflex eines Buches, das ich vor einiger Zeit gelesen habe. Erschreckend ist das „mutterseelenalein“. Dass ich jetzt ein Waise - ein Waisenkind - war, hatte mich aufgeschreckt. Wie tief mich als Mitfünfziger diese Erfahrung getroffen hat, geht mir auch heute noch nach.
Ein Waise zu werden, scheint in mir eine so tiefe Urangst gewesen zu sein, dass sie mit den Altersjahren des Erwachsenseins nicht „erledigt“ war. War ich überhaupt bis zu diesem Zeitpunkt schon „erwachsen“? Lebte ich bis dato immer noch mit der Rettungsleine Nabelschnur? Kann ich leben ohne die Rettungsleine einer Beziehung, in der sich die Ursehnsucht nach einem unzerstörbaren Vertrauen verleiblicht?
Ich frage mich, ob das, was ich damals erfahren habe, einfach nur meine ganz persönliche Erfahrung ist, die sicher zum Teil damit zusammenhängt, dass der Zweite Weltkrieg mich als Halbwaisen stigmatisierte. Oder habe ich nach dem Tod meiner Mutter eine Erfahrung gemacht, die in der einen oder anderen Weise sehr viele Menschen – vielleicht sogar alle – trifft?
Deuten möchte ich den Albtraum vom Januar/Februar 1999 als eine Geburt in ein anderes Leben. Eine Grundlage war mir entzogen, - die Nabelschnur zur Mutter noch einmal abgeschnitten. Ich musste tief durchatmen, - überhaupt: atmen lernen, - einen neuen Lebensatem in mich einsaugen. Dass mich das an den biblischen Bericht von der Erschaffung des Menschen lässt, wird kaum verwundern: „Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (Gen 2,7).
Unser Evangelienabschnitt deutet an, dass die Jünger verwaist sein werden, wenn Jesus sie verlässt. Sie sind verwaist, weil der Meister von ihnen geht. Jesus war der Bezugspunkt, der ihrem Weg Orientierung und Halt gab. Von nun an wird ihnen dieser Bezugspunkt genommen sein. Sie werden künftig alleine fertig werden müssen, - allein sein mit sich selbst und mit ihren Erinnerungen. Nicht einmal ein Zipfel seines Gewandes wird ihnen bleiben (vgl. Mt 14,36). Sie werden sich gottverlassen allein fühlen. Jesus kann sich in sie hineindenken und es ihnen nachfühlen.
Jesus weiß das alles, ohne dass es die Jünger sagen müssen. Doch er widerspricht ihnen: Ich lasse euch nicht allein. Er verspricht ihnen einen anderen Beistand. Er verspricht ihnen den Geist der Wahrheit. Er verspricht ihnen, wieder zu ihnen zu kommen.
Kann aber ein anderer ein Beistand sein, der den Verlust ausgleicht? Und was ist das: der Geist der Wahrheit? Ist es das Durchstoßen der bisherigen Begeisterungsoberfläche in eine neue Glaubenstiefe, - oder sagen wir vielleicht besser: in die Gottestiefe? Ist der „Geist der Wahrheit“ vielleicht so etwas wie eine Abnabelung von den „Rockschößen“ des irdischen Meisters? Hielten sie bislang noch sich fest, obwohl sie glaubten, sich an ihm festzuhalten? Mussten sie darum lernen, sich zu verlassen, um sich auf ihn verlassen zu können? Dieser Lernschritt steht für die Jünger jetzt an. Es ist ein Geburtsschritt in neues Leben.
In seiner Todesangst im Garten Getsemani und im Klageschrei am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,46; Ps 22,2) hat Jesus selbst diese Geburtswehen und die Geburt in das neue Leben dann den Jüngern vor-gelitten. Er hat sich selbst losgelassen und des Vaters Willen über den seinen gestellt (Mt 26,42; Lk 22,42). Er hat die Gottverlassenheit hinüber-übersetzt in den Glaubenssatz: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46; Ps 31,6).
Abschließend können wir uns vielleicht noch bewusst machen, dass im Johannes-Evangelium noch eine andere Stelle die Waisen-Problematik thematisiert. Am Kreuz nimmt Jesus Abschied von den beiden Personen, mit denen ihn eine besondere Liebe verbindet. Sein Tod lässt sowohl seine Mutter als auch den Lieblingsjünger verwaist zurück. Ob sie beide so den Verlust des Sohnes bzw. Meisters besser tragen oder gar überwinden konnten, dürfen wir vermuten, - wissen tun wir es nicht. Mitgeteilt wird uns aber, dass für Johannes die Beziehung zur Mutter seines Meisters eine neue Qualität gewann. Er nahm sie zu sich. Aus dem Verlust heraus ist er in eine andere Beziehung zu Maria „geboren“ worden.
„Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Johannes 19,26f)
Zeitlich gesehen ist das Kreuzeswort Jesu an seine Mutter und den Jünger nach dem Abschnitt aus den Abschiedsreden, der unser Thema ist, einzuordnen. Wenn ich die beiden Texte zusammenlese, dann kann man – und darf man vielleicht sogar? – schließen, dass Johannes den hoch theologischen und spirituellen Aussagen über den „anderen Beistand, den Geist der Wahrheit“ ein sehr praktisches, - ich möchte sagen: pastorales Ausführungsmodell hinzufügt. Der verheißene Beistand stößt eine hohe Verantwortung füreinander und damit auch eine ebenso hohe Verheißung für ein neues Miteinander an. In den weiteren neutestamentlichen Schriften wird dieses Modell mehr und mehr ausgeformt. Kirche im Sinn Jesu Christi wird wachsen als Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
Ich habe diese Gedanken kurz vor Pfingsten geschrieben, nachdem am 6. Sonntag der Osterzeit, also am Sonntag vor Christi Himmelfahrt, der eingangs zitierte Evangelien-Abschnitt gelesen wurde. Dass vor uns liegende Pfingstfest ist mir dabei in meinem Nachdenken noch einmal deutlicher geworden als das „Weihnachtsfest“, das Geburtsfest der Kirche und meines eigenen Christseins. Dass der Geist der Wahrheit uns alle in die Geburt neuen Lebens führe, darf gewiss unser aller Hoffnung und Gebet sein.
Abt Albert Altenähr OSB
2005-05-03