Eine Weihnachtsgeschichte
Wie der liebe Gott die Sonnenblume erfand
Als die Sonnenkönigin an jenem Morgen sich müde den Schlaf aus der Seele gähnte, war sie ganz durcheinander. Hatte sie in der Nacht nicht irgendetwas geträumt? Aber was war das bloß gewesen? Der Mond und die Sterne waren so aufgeregt gewesen und diese Aufregung hatte sich in den Schlaf der Sonnenkönigin geschlichen. Die ganze Nacht hindurch hatten die Sterne geflüstert, waren hin und her gehuscht, sie hatten gesungen und getanzt. Die Sonne fand das gar nicht nett, denn sie hatte gestern lange gearbeitet und mußte auch heute wieder früh heraus, um den neuen Tag hell zu machen. Da konnte sie doch wohl erwarten, daß die Sterne Rücksicht nehmen!
Verschlafen, aber doch energisch schob die Sonne die dicken Wolkenkissen auseinander. Mit einem ersten Sonnenstrahl blinzelte sie nach unten und war beruhigt, als sie die Erde unter sich noch schlafen sah. Nur zwischen dem großen Meer und dem Fluß brannte auf dem Feld ein helles Lagerfeuer. Das Meer war ein eingebildetes Ding, das von sich behauptete, es sei die Mitte der Erde. Die Sonne wußte es besser, denn sie hatte auf ihren Himmelswanderungen schon viel größere Meere gesehen. Der Fluß war aber wirklich etwas Besonderes, denn kein anderer Fluß war so tief in die Erdkruste eingegraben wie dieser. Weil er so einmalig war, liebte ihn die Sonnenkönigin und schenkte ihm die ganze Glut ihrer Liebe. - Das mit dem Feuer auf dem Feld hatte Zeit; später würde sie einmal nachschauen, ob es da etwas Besonderes zu sehen gab.
Zuerst aber mußte sie sich auch die letzte Müdigkeit aus den Augen reiben und und alle dunklen Nachtfalten aus dem Gesicht massieren, damit sie als strahlende Königin über den Tag herrschen konnte. Und wie sie sich so putzte und putzte, stieg ihr mehr und mehr die Morgenröte ins Gesicht und kündigte allen Menschen und Tieren auf der Erde an, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonnenkönigin in ihrem vollen Strahlenglanz aufgehe. Ganz zum Schluß setzte sie sich ihre Strahlenkrone auf, um über den Tag zu herrschen.
Und dann stieg sie langsam, ganz langsam über den Horizont empor. Eine Königin läuft ja nicht einfach so daher wie gewöhnliche Menschen, sondern sie nimmt sich Zeit und schreitet in wohlabgemessener Würde, so daß jedermann spürt, wie bedeutend und wichtig sie ist. Aber schließlich stand die Sonne voll über dem Horizont und strahlte über den Jubel der Menschen, die sie an diesem neuen Tag freudig begrüßten. Freundlich lächelte sie auf die Erde herunter und sonnte die Welt - und sich selbst - in ihrer strahlenden Wichtigkeit.
Aber irgendwie stimmte etwas nicht. Da, in der Gegend bei dem nächtlichen Lagerfeuer nahm man sie heute offenbar gar nicht so wichtig. Die Schafe blökten voller Aufregung und stupsten sich gegenseitig auf einen einfachen, - ja, eigentlich sogar schäbigen Stall zu. Die Hirtinnen und Hirten waren einfach von ihren Herden weggelaufen, standen um den Stall herum und drängelten sich einer nach dem anderen hinein. Ein Ochse und ein Esel versuchten, mit gelassener und behäbiger Ruhe in dieses hektische Gedränge am Stalleingang wenigstens ein bißchen Ordnung zu bringen. Die beiden gefielen der Sonnenkönigin, denn auch sie legte Wert darauf, daß alles in der rechten Ordnung verlief. Das tollste aber war, daß mitten in dem Getümmel ein paar Hirtenhunde ganz friedlich mit einem Rudel Wölfe herumtuschelten. Und überhaupt war es in dem ganzen Hin und Her verwunderlich friedlich.
Die Sonnenkönigin war so überascht und verwirrt von dem was sie sah, daß sie ihre Würde vergaß und sich neugierig mitten unter die Menge mischte - einfach so. Für große Leute, die wirklich wichtig sind, ist es gar nicht so einfach, so ganz einfach unter anderen Leute herumzulaufen; und noch viel schwieriger ist das für Leute, die sich nur einbilden, wichtig zu sein. Die Sonnenkönigin aber war sooo wichtig, daß sie sich keine Sorgen machen mußte, etwas von ihrer Würde zu verlieren, wenn sie einmal darauf verzichtete.
Als die Sonne endlich ganz vorne an der Stalltür war, fragte der Ochse mit seiner tiefen Stimme, ob schon wieder Platz für einen neuen Besucher da sei, und weil der Esel mit einem hellen "I-a" antwortete, ließ der Ochse die Sonnenkönigin passieren. In dem Stall wurde es ganz hell und warm, als die Sonne eintrat. "Gott sei Dank, daß du da bist und Wärme bringst," begrüßte ihn das Paar, das in dem Stall genächtigt hatte. "Trotz des Feuers war es doch sehr kalt, und für die Geburt unseres Kleinen war das nicht so schön." Und wie die Leute das so sagten, sich gegenseitig und gemeinsam den Kleinen in der Krippe anlächelten, da räkelte der sich wohlig unter den warmen Strahlen. Er blinzelte ein wenig in die Sonne hinein, so daß sie glaubte, er würde ihr ein Äuglein knipsen, schloß wieder die Augen und träumte sich in neuen Schlaf.
Bei den Dreien war aber noch ein aber Vierter. Den lieben Gott sah und erkannte nur die Sonne; denn sie allein stieg jeden Tag hoch genug in den Himmel hinauf, um ihn zu kennen. Der liebe Gott hatte ganz versonnen und versunken in der Ecke gesessen. Jetzt klatschte er in die Hände, sprang auf und umarmte die verdutzte Sonnenkönigin. "Jetzt hab ich's. Der Kleine braucht zu seinem Namen Jesus noch einen zweiten Namen voller Zärtlichkeit. Ich will ihn 'mein Sonnenschein' nennen. Liebe Sonnenkönigin, willst Du nicht seine Patin sein?" Diese Bitte machte die Sonne ganz verlegen und mächtig stolz. So verlegen war sie, daß sie nur ein ganz leises "Ja!" hauchen konnte.
Als die Sonnenkönigin den Stall wieder verlassen hatte, da sprang sie mit einem großen Satz hoch in den Himmel hinein und lachte aller Welt die Botschaft zu: "Gott hat seinen Sonnenschein in die Welt gesandt!"
Als die Sonne später wieder einmal hoch am Himmel beim lieben Gott vorbeischaute, da setzten sich die beiden lange zusammen. Sie überlegten, was sie dem Kleinen schenken könnten, damit er sich immer neu daran freue. Sie wußten, daß er auf den Feldern und Wiesen immer wieder die Blumen anschaute und die schönsten Blumen in seine Erzählungen einbaute. Und wie die beiden so hin- und herüberlegten, malte der liebe Gott mit dem Stift in seiner Hand ganz unbewußt eine Blume. Die sah anders aus als die Blumen, die es schon gab. Sie war viel größer, hatte einen leuchtend goldenen Blütenkranz und war überhaupt der Sonnenkönigin wie aus dem Gesicht geschnitten. "Eine solche Blume pflanzen wir!" rief der liebe Gott. "An dieser Blume wird er sich ganz besonders freuen. Sie wird ihn an dich, meine liebe Sonnenkönigin, erinnern und daran, daß er mein Sonnenschein ist.
Und schon wieder war die Sonnenkönigin ganz verlegen und zugleich überglücklich. Der liebe Gott und die Sonnenkönigin tauften die neue Blume "Sonnenblume" und so heißt sie noch heute. - Wenn du wieder einmal eine Sonnenblume siehst, dann schau sie dir lange an. Wenn du ganz still wirst, dann wird sie dir ihre Geschichte erzählen. Und bestimmt kann sie dir noch viele andere Geschichten erzählen, - von den anderen Blumen, den Gräsern, den Sträuchern und Bäumen, und wie das kleine Kind aus dem Stall sich auch später als Großer an ihnen allen gefreut hat. Kannst du das verstehen, daß er sich an den Blumen gefreut hat? Bestimmt; denn auch du freust dich doch an der Sonnenblume und den anderen Blumen - oder?! In dieser Freude ist er ganz wie du, und du bist wie er. Ist das nicht toll?
Albert Altenähr OSB
1996-01-02