Advent 2002
Christus entwickeln
Auf Bildern des Mittelalters und der frühen Neuzeit von der Geburt Jesu sehen wir den Jesusknaben fest in Binden eingewickelt. Eingesponnen wie ein Käfer in seinem Larven-Kokon schaut nur der kleine Kopf aus dem Bindengewickel heraus. Frühere Zeiten hatten offensichtlich andere Vorstellungen, wie ein kleines Kind „in Windeln gewickelt“ aussieht. Wie ein Weihnachtspaket - schön ordentlich eingepackt – wirkt die alte Darstellung auf mich.
Wie den neugeborenen Jesusknaben so finde ich auch in alten Bildern von der Auferweckung des Lazarus den Freund, den Jesus aus dem Grab herausruft, immer wieder wie in einen Kokon eingewickelt dargestellt. Im Johannes-Evangelium heißt es: „Der Verstorbene kam heraus; seine Füße waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu den Leuten: Löst ihm die Binden, und lasst ihn weggehen.“ Es ist, als ob Jesus sagen würde: „So geht es nicht. So geht es nicht weiter. So kann er nicht leben und nicht seinen Weg gehen. Was da eingewickelt ist, muss entwickelt werden. Entwicklung ist notwendig. Helft Lazarus, sich zu entwickeln.“
Lässt sich diese freie Übersetzung der Worte Jesu am Grab des Lazarus nicht auch auf den ganz ähnlich eingewickelten Jesusknaben hin übersetzen?
Für den neugeborenen Jesusknaben reichte es nicht, geboren zu werden. Er muss sich noch weiter in das Menschenleben hinein entwickeln. Er wird wachsen und erwachsen werden und muss sich seinen Weg – gegen den Widerstand seiner Verwandtschaft – frei strampeln und erobern. „Lasst ihn gehen.“
Muss Jesu Wort am Grab seines Freundes vielleicht auch auf unseren Glauben und auf unsere weihnachtliche Festfeier hin gelesen werden?
Zuerst fällt mir dazu ein, was Angelus Silesius gesagt hat: „Und wäre Jesus tausendmal geboren, aber nicht in dir, so nützte es dir nichts.“ ( s. Anmerkung) Ein christlich verstandenes Weihnachtsfest ist kein Fest, das „von außen“ auf mich zukommt und das einfach so heruntergefeiert werden kann, sondern es ist erst dann ein christliches Fest, wenn es „von innen“ her kommt, - wenn ich zulasse, dass es etwas mit mir zu tun hat, - wenn ich es als Ereignis meiner Schwangerschaft mit Gott verstehe. Wichtiger als die Geschenke unter dem Tannenbaum ist die Frage: wer ist Gott wirklich für mich? Ist mir Gottes Sohn geboren? Wird mir bei dieser Botschaft warm ums Herz oder lässt sie mich kalt?
Dieselbe Frage noch einmal anders gestellt: Wie hat sich mein kindlicher Glaube an das Christkindchen zu einem erwachsenen Christusglauben entfaltet, - entwickelt? Tue ich überhaupt etwas, um meinen Glauben zu entwickeln? Oder lasse ich ihn schön eingepackt (wie das Jesuskind auf den mittelalterlichen Bildern schön eingepackt ist), damit er mich im Alltagsleben ja nicht stört?
Das Kind auf den alten Bildern hat Arme und Hände, Beine und Füße. Wenn man es aus seinen Windeln ent-wickelt, dann wird es ganz schön strampeln, krabbeln und im Leben seiner Mutter, im Leben Josefs und in unser aller Leben für lebendige Unruhe sorgen.
Abt Albert Altenähr OSB
2002-10-24
Die Bilder dieser Seite: Giotto (1267-1337), Geburt Jesu (Capella degli Scrovegni, Padua), Auferweckung des Lazarus (San Francesco, Assisi), jeweils Ausschnitte.
Anmerkung: Das Angelus Silesius-Zitat ist aus der Erinnerung heraus zitiert worden und in dieser Form leider nicht korrekt: Es muss lauten: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, / doch nicht in dir: du wärst noch ewiglich verloren." Zwar ist das Zitat nicht der entscheidende Angelpunkt meiner Meditation, aber korrekt hätte ich schon zitieren sollen. (2006-12-07) - fr.a.
Postscriptum:
Anfang Dezember erhielt ich von der Mutter zweier unserer Messdiener folgende Ergänzung des obigen Textes:
„Wenn man es (das Kind) aus seinen Windeln ent - wickelt, dann wird es ganz schön strampeln, krabbeln und im Leben seiner Mutter (...) für lebendige Unruhe sorgen.“
Es wird krank werden und mit Hilfe von Hals- und Wadenwickeln wieder gesunden.
Es wird erfahren, dass man mitunter auch dadurch sein Ziel erreichen kann, dass man andere um den Finger wickelt.
Später wird es einen immer wieder in Streitgespräche verwickeln, die ihm hoffentlich helfen, sich zu einem er - wachsenen Menschen zu ent - wickeln.
Die Mutter, der Vater, jeder Mensch ein Entwicklungshelfer?
Der entwickelte Christus - mein Entwicklungshelfer?
Ganz schön verwickelt.Lieber Abt, auch zu unserer Krippe gehört ein Jesusknabe eingewickelt bis zum Hals.Ich werde ihn in diesem Jahr mit neuen Augen betrachten.
P. Albert Altenähr OSB
2002-12-03