Padovanische Weihnacht
in der Mitte der Glaubensnacht
In der Benediktinerabtei Santa Giustina in Padua sind Fragmente eines Portals aus der Zeit um 1000 erhalten, dessen Türsturz Szenen der Geburtsgeschichte Jesu zeigt. Einerseits ist so viel erhalten, dass man ohne Probleme die Szenen lesen und sich ein Bild von der hohen Qualität der Arbeit machen kann. Andererseits ist aber auch so viel verloren gegangen, dass gerade diese Fehlstellen einen eigenen meditativen Wert gewinnen. Das eine schenkt eine Ahnung und einen Traum des Vollendeten. Das andere weckt Trauer über und Sehnsucht nach dem Verlorenen.
Um das Zentralbild der Geburt sind links und rechtsje zwei Szenen dargestellt: dieVerkündigung durch den Engel und die Begegnung Marias und Elisabeth, - die Engelbotschaft an die Hirten und die Anbetung durch die Weisen.
Die wichtigste Person der Weihnachtsbotschaft fehlt in der ganzen Szenenfolge: das Jesus-Kind. Weihnachten ohne den, um den es doch gerade geht? Das Wort des Angelus Silesius (1624-1677) „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst doch ewiglich verloren“ findet in diesem Portalfragment eine ungemeine Plastizität. Der Betrachter ist gerufen, das göttliche Kind von Betlehem gewissermaßen selbst in die Szenenfolge „hineinzugebären“.
Der Stall von Betlehem ist dem Künstler der ersten Jahrtausendwende zu einer Palastkemenate geworden. Zwichen kostbaren Säulen ist ein Vorhang geöffnet und faltenreich um die Säulen drapiert. Es ist ein „königliches“ Lager mit feiner Decke, auf dem sich die Mutter stützend halb aufrichtet und den Betrachter anblickt. Wären nicht die anderen Szenen der Geschichte und würde nicht der Esel hinter dem Vorhang hervorlugen, so käme man vielleicht gar nicht darauf, hier eine Krippendarstellung zu vermuten. Ob der Jesus-Knabe in einer Hänge-Wiege über der Mutter dargestellt war? Der Heiligenschein über der Mutter legt das nahe.
Maria ruht, - sie ruht in sich. In ihrer Hinwendung zum Betrachter ist sie gleichzeitig im stillen Gespräch mit mir, der ich die Szene betrachte.
Josef ist wie in nicht wenigen anderen Darstellungen der Geburtsszene auch hier ein beteiligter Unbeteiligter. Er steht bzw. sitzt nahezu buchstäblich „draußen vor“ und ist doch gleichzeitig so nahe dran, dass er „mitten drin“ ist. Seine Sitzhaltung lässt ihn natürlicherweise der Mutter den Rücken zuwenden, aber er hat sich ihr zugewandt und wendet sich in seiner abwehrend erhobenen Hand doch auch wieder ab. Ist dieser innerlich zerrissene Josef vielleicht ein Bild für den Betrachter, der seine Sehnsucht und seine Fragen hat und der zugleich seine Verantwortung für die Zukunft des Kindes in dieser Welt spürt? Dass Weihnachten damals gelingen konnte, war auch seinem Engagement zu verdanken. Dass Weihnachten –und Gott überhaupt – heute geht und weiter geht, liegt nicht nur, aber auch in meiner Hand.
So traurig es den Betrachter stimmen mag, dass die Zeit – wer auch immer das gewesen sein mag – ihre Spuren in den Bilderfries hineingestört hat, so sehr wird der Betrachter erschrecken, dass das Jesuskind präzise rechtwinklig aus der thronenden Madonna der Dreikönings-Szene herrausgeschnitten ist. Oder muss man es ganz anders denken, - etwa: dass diese buchstäbliche Schnittstelle nur darauf wartet, dass ein Künstler eine passgenaue Figur herstellt und so mit seinem Jesusbild den bereit gestellten Rahmen füllt?
Die Leere drängt sich noch mehr auf, weil der Madonna Kopf und Arme abgeschlagen sind. Der ganz und gar unbeschädigte König reicht sein Geschenk ins Leere hinein. Da ist niemand, der sich zu ihm wendet, - niemand, der sein Geschenk annimmt. Wie lange er jetzt schon so vor dem „Nichts“ oder dem „Nicht-mehr“ steht, ... wir wissen es nicht. Aber es ist faszinierend, wie unbeirrt er aushält und sein Geschenk hinhält.
Der König dieser padovanischen Weihnacht ist gleichsam bildgewordene Glaubensnacht des Glaubenden in heutiger Zeit. Die kindlichen Gewissheiten sind dahin, aber das Sehnsuchtswissen, dass da einer ist, obwohl alle Bildgriffigkeiten geschwunden sind, lässt leben und den Glauben wagen. So wenig Melchior – geben wir dem König diesen Namen – vor Augen hat, so viel sieht er und lässt er vor unseren Glaubensaugen erstehen. Er ist „Melchior = König des Lichts“. Er ist ein König, denn seine Dunkelheit ist licht.
Albert Altenähr
041228