Zu einer Lindenholzplastik von Elly-Viola Nahmmacher (1913-2000)
Begegnung in Holz
Vor mir: eine schlichte Lindenholzplastik, ein Geschenk der Künstlerin Elly-Viola Nahmmacher anlässlich eines kurzen Besuchs in unserer Abtei vor ca. 5 Jahren. Wir kannten uns damals noch nicht, und wir haben uns seitdem auch nicht wieder getroffen. Aber das so unprätentiös überreichte Geschenk, das seinerseits so wenig aus sich hermacht und gerade darin so sprechend zart ist, hat Saiten in mir zum Klingen gebracht, die mir Frau Nahmmacher vertrauter erscheinen lassen als andere Menschen, die ich länger kenne und häufiger sehe und spreche als sie.
Diese Plastik vor mir: eine stille Meditation des naturgewachsenen Holzes, - ein Einfühlen in die Maserungen der Jahresringe, - ein Hineinahnen in verborgene Tiefen, - ein verhaltenes Aufschließen, - Spannung, was sich im Verborgenen entbirgt …, - Einladung an die Sensibilität des Betrachters, mit der Künstlerin sich auf Ent-deckungsreise zu begeben, - den Spuren nachzugehen und die eigene Lebensspur zu ent-decken.
Mein äußeres Auge registriert, wie viel die Künstlerin weggenommen von dem gewachsenen Holzblock, - wie gefühlvoll sie sich herangetastet hat an die Innerlichkeit des Holzes und wie organisch weich die fließenden Linien sind. Mein Auge – jetzt schon das innere? – sieht neues Leben aus totem Holz, - sieht die zärtliche Hinwendung einer Mutter zum Kind auf ihrem Arm. Ich sehe das, obwohl doch nur etwas weggenommen, kein Gesicht und keine Hand ausgeführt wurde. Dietrich Bonhoeffer hat in einer Christologievorlesung der frühen 30-er Jahre einmal formuliert: „Der Christ und der Künstler haben eines gemeinsam: sie können über sich hinaus blicken.“ Ob es diese gemeinsame Ader ist, die mich sehen lässt, was - banal und banausig betrachtet – gar nicht da ist? Auf jeden Fall geschieht mir Begegnung mit dem Werk und seiner Schöpferin, und in dieser Begegnung schenkt sich mir die Plastik als mein Kunstwerk.
In ihren Holzplastiken lässt uns Elly-Viola Nahmmacher immer die Kunst des Wegnehmens entdecken. Sie entlässt den Betrachter in das Loch seiner ihm selbst innewohnenden Seherkraft. Wenn dort nichts ist, wird er hier nichts finden. Als Meister der Kunst des Wortes erkennt Max Frisch Literatur darin Gewicht zu, dass sie dem Weißen zwischen den Worten Raum lässt. Hilde Domin umschreibt das damit angedeutete Geheimnis mit den „Definitions-Zeilen“ über die Lyrik:
Das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
In ihrer Kunst lehrt Elly-Viola Nahmmacher, das Zwischen zu schauen und das Offen-gelegte als Offenbarung staunend wahrzunehmen.
Abt Albert Altenähr OSB
1993-02-08
Beitrag für eine Festschrift zum 80. Geburtstag der Künstlerin.